Wednesday, February 07, 2007

aus der Prinzhorn-Sammlung der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg


auf der Innenseite bestickte Jacke aus Anstaltsleinen von Agnes Richter, 1895

An die Jacke geheftet wurde ein Zettel mit folgender Aufschrift: "Nähte in alle Wäsche und Kleidungstücke Erinnerungen aus ihrem Leben." Die vielen gestickten Daten bestätigen dies, so heißt es zum Beispiel an der Innenseite des linken Seitenzwickels: "19. Juni 73 geb." Die wenigen lesbaren Wörter machen neugierig. Wer war Agnes Richter? "Kinder" steht an einer Stelle. Hatte sie Kinder? "Meine Schwester" und "Bruder Freiheit?" offenbaren, dass sie Geschwister hatte. Von "Forschung" und von einer "Köchin" ist die Rede. Was war ihr wichtig? "Kirschen" und an anderer Stelle "keine Kirschen"; und dann die stetigen Bezüge auf Kleidungsstücke. Sehr persönliche Dinge werden hier auf die zweite Haut übertragen. Dennoch bleiben Agnes Richter und ihre Geschichte verborgen in dem schwer lesbaren unablässigen Fluss von auf und abtauchendem Garn. Der Faden durchzieht den Stoff wie der Ariadnefaden das Labyrinth. In der griechischen Mythologie war Ariadnes Faden die Rettung aus dem Labyrinth, Garant für das Überleben und die Rückkehr in die Gesellschaft. Welche Funktion kommt dem sich einschreibenden Faden dieser Jacke zu?

Zu bezweifeln ist, dass die gestickten Wörter nur auf Vergangenes verweisen. Die Häufigkeit des identitätsbezeichnenden Wortes ‚Ich' und der Possessivpronomina deutet eine andere Auseinandersetzung an. Gisela Steinlechner deutet Sprache - das geschriebene bzw. gestickte Wort - als strukturgebend. Anzufügen ist, dass die strukturgebende Funktion des Schreibens von grundsätzlicher Natur ist, also jegliches Erleben strukturiert, Halt verleiht, Distanz ermöglicht, ebenso wie eine Selbstvergewisserung und Verortung. Das Erleben bezieht sich auf die Gegenwart, und so ist auch das wiederholte stickende Schreiben von "Ich" und "Mein" auf die Gegenwart des Schreibens zu beziehen, an einer Stelle deutet ein lesbares "dich" überdies auf einen imaginierten Adressaten des Schreibens. Das Schreiben ist sogar auf die Gegenwart des Verfertigens dieser Jacke bezogen (ebenfalls innen ist zu lesen: "Meine Jacke ist", an anderer Stelle: "1894 Ich bin / Ich heute Fräulein"). Diese Gegenwart ist erfüllt von einer Tätigkeit. Sie ist Gegenpol zum Anstaltsalltag, der durch seine entwürdigenden Situationen, Eingriffe in die Intimsphäre, durch den Verlust der persönlichen Dinge, der eigenen Kleidung zu Selbstentwertung und Identitätsverlust führt. Agnes Richter stickt dagegen "Ich", "Ich bin", "Ich habe". Sie stickt diese Wörter und sie trägt sie auf der Haut, mehr zur Selbstvergewisserung als zur Demonstration. Beleg ist die Verkehrung der Innen- und Außenseiten des Jäckchens, so dass die Schrift im Inneren geborgen bleibt. Auf der Außenseite des Ärmels findet sich das Wort "Anstaltsärzten." Bleibt der Zusammenhang auch verborgen, so ist dies doch bezeichnend.

Die demonstrative Nutzung weiblicher Handarbeitstechniken zur Vergewisserung der eigenen Existenz ist eine Strategie, die insbesondere in der zeitgenössischen Kunst Verwendung findet. Agnes Richter schuf ein dichtes Textgewebe, das sie kleidet. Es hat die Funktion, etwas zu zeigen und sichtbar zu machen, zu schmücken, aber auch zu schützen, das drohende Verschwinden von Identität abzuwehren.

Viola Michely, Projektmitarbeiterin zur Ausst. "Irre ist weiblich"

Aus: Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900, Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn, hg. von Bettina Brand-Claussen und Viola Michely, Heidelberg 2004, S. 146.


http://prinzhorn.uni-hd.de/galerie/agnes-richter.shtml

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